Petermann (2020). Psychologische Diagnostik. In M. A. Wirtz (Hrsg.), Dorsch – Lexikon der Psychologie (18. Aufl., S. ). Bern: Verlag Hogrefe Verlag.

 

Psychologische Diagnostik

Franz Petermann

  

Die Psychologische Diagnostik ist eine zentrale angewandte Querschnittsdisziplin der Psychologie, die die regelgeleitete Sammlung und Verarbeitung von gezielt erhobenen Informationen, die für die Beschreibung und Prognose menschlichen Erlebens und Verhaltens bedeutsam sind, beinhaltet. Die Diagnostik psychologischer Merkmale dient in der Regel der Beantwortung einer Fragestellung und ist in einen Entscheidungsfindungsprozess eingebunden. Psychologische Diagnostik zielt insbesondere auf die Feststellung relevanter Merkmalsausprägungen, die den Zustand, den Verlauf und die Veränderung von Merkmalsausprägungen empirisch zugänglich machen. Psychologische Diagnostik unterstützt dabei wesentlich wissenschaftliche Gütekriterien von Entscheidungsprozessen (u. a. Nachvollziehbarkeit, Transparenz).

Diagnostische Urteilsbildung und Entscheidungsfindung kann als mehrschrittiger Prozess aufgefasst werden, der der Entscheidungsfindung in einem bestimmten Anwendungsfeld dient. Ausgehend von einer diagnostischen Fragestellung, die ggf. im Prozessverlauf spezifiziert, angepasst und differenziert werden kann, werden Ressourcen (personale, zeitliche) genutzt, um diagnostische Informationen zu sammeln, die eine Beantwortung der Fragestellung erlauben (Jäger, 2006). Der Diagnostiker benötigt zu dessen kompetenter Ausgestaltung insbesondere allgemeine psychodiagnostische Kompetenzen, Kompetenzwissen (selbstkritische Reflexion der eigenen Kompetenzen), Bedingungswissen (bzgl. Determinanten menschlichen Erlebens und Verhaltens), Änderungswissen (bzgl. Methoden der Erlebens- und Verhaltensmodifikation), technologisches Wissen (bzgl. Erhebungs- und Auswertungsmethoden), Vergleichswissen (im Sinne der vergleichenden Einordnung von Erleben und Verhalten). Zudem muss der Diagnostiker rechtliche, (berufs)ethische, gesellschaftliche und methodische Randbedingungen berücksichtigen.

Der diagnostische Prozess gliedert sich grob in fünf Teilschritte:

(1) Präzisierung der Fragestellung: Eine Fragestellung zur Behebung eines Informationsdefizits wird eindeutig präzise formuliert und im Hinblick auf ihre empirische Untersuchbarkeit bewertet.

(2) Hypothesenformulierung: Einzelne oder konkurrierende Annahmen werden formuliert, die durch die Erhebung diagnostischer Informationen beantwortet werden können.

(3) Datenerhebung: Die in der Hypothese festgelegten Merkmale müssen orientiert an psychometrischen Gütekriterien operationalisiert werden (Auswahl der Erhebungsverfahren).

(4) Diagnostische Urteilsbildung: Integration der gewonnenen Informationen zum Zwecke der Entscheidung über die Gültigkeit der Hypothese(n).

(5) Urteil und Gutachten: Festlegung einer Diagnose und/oder Prognose. 

 

Unterscheidungsmerkmale 

(1) Status- vs. Veränderungsdiagnostik: Die Statusdiagnostik zielt darauf ab, den Ist-Zustand in Bezug auf die für die Problemstellung zentralen Merkmale zu beschreiben. Neben der deskriptiven Darstellung kann es u. a. das Ziel sein, (a) zukünftige Entwicklungen zu prognostizieren (z. B. Schuleignung, Berufseignung) oder (b) Ursachen oder zugrundeliegende Merkmalsausprägungen (z. B. Wahrnehmungseinschränkungen bei manifest diagnostizierten Einschränkungen der Leseleistung) erkennen zu können. Bei der Veränderungsdiagnostik werden Merkmale zu mehreren Messzeitpunkten erhoben, um z. B. natürliche Prozesse oder Effekte von Interventionen zu dokumentieren.

(2) Norm- vs. kriteriumsorientierte Diagnostik: Normorientierte Diagnostik setzt individuelle Merkmalswerte in Referenz zu der Merkmalsverteilung in einer Referenzverteilung (z. B. prozentualer Anteil geringerer Ausprägungen in der entsprechenden Altersgruppe). Kriteriumsorientierte Diagnostik macht eine Aussage darüber, ob ein definiertes Kriterium erfüllt ist (z. B. Schulfähigkeit).

(3) Eigenschafts- vs. Verhaltensdiagnostik: Während die Eigenschaftsdiagnostik Personenmerkmale in der Regel als eher stabil und überdauernd (z. B. Intelligenz) annimmt, betont die Verhaltensdiagnostik insbesondere die Situationsabhängigkeit und Veränderbarkeit der Merkmale und des Verhaltens (z. B. Verhaltensanalyse).

(4) Unimethodale vs. multimethodale Diagnostik: Obwohl die Diagnostik häufig auf lediglich einem methodischen Zugang (z. B. Fragebogen, Beobachtung oder Interview) beruht (unimethodale Diagnostik) ist die multimethodale Diagnostik, die auf der Integration von Informationen auf Basis unterschiedlicher Methoden fußt (z. B. Multitrait-Multimethod-Ansatz), vorzuziehen, wenn Einzelmethoden keine hinreichend valide Informationsbasis gewährleisten (z. B. Selbstauskünfte in Bewerbungsgesprächen).

(5) Dimensionale vs. klassifikatorische Diagnostik: Psychologische Merkmale können als kontinuierlich ausgeprägt (z. B. Motivation, Intelligenz) oder als qualitativ bzw. kategorial angenommen werden (z. B. Störungstyp). Dimensionale Diagnostik zielt auf die Schätzung von Merkmalsausprägungen auf einer als kontinuierlich angenommenen Dimension ab, während die kategoriale Diagnostik die Identifikation der Zugehörigkeit von Personenmerkmalen zu sich ausschließenden Kategorien anstrebt.

 

 Methoden und Datenquellen 

Die Psychologische Diagnostik verwendet ein breites Spektrum an Methoden, deren psychometrische Begründung und Evaluation einen Schwerpunkt darstellen. Psychologische Diagnostik sollte auf einem Modell des zu diagnostizierenden Problembereichs begründet sein und davon ausgehend die zentralen Merkmale oder Merkmalsdimensionen (z. B. Indikatoren der psychischen Belastung, Motivation, Kompetenzen) erfassen. Als Datenquellen dienen z. B. psychometrische Tests (insbesondere Leistungs- und Einstellungstests), Beobachtungs- und Befragungsmethoden, aber auch biochemische und bildgebende Verfahren. Ambulatory Assessment sowie computer- und internetbasierte Erhebungsverfahren gewinnen als moderne Verfahren immer stärker an Bedeutung.

Zur Erfassung vielfältiger Konstrukte in allen Anwendungsbereichen stehen geprüfte und etablierte psychologische Testverfahren zur Verfügung, die die fundierte Erfassung relevanter Konstrukte oder typologischer Profile ermöglichen. Im Lexikon werden historisch bedeutsame oder für die Anwendungsgebiete besonders zentrale Instrumente vorgestellt. Die Darstellungen informieren knapp über konzeptuelle Grundlagen, Anwendungsaspekte und die erfassten Konstrukte. Diese Informationen ermöglichen einen Überblick über wichtige Merkmale der Instrumente, die jedoch in der Regel nicht hinreichend für eine letztendliche Entscheidung bzgl. der Auswahl optimaler Verfahren sind. Hierzu müssen weitergehende Informationen zu den Verfahren aus den angegebenen Quellen oder publizierter Testbeschreibungen berücksichtigt werden. In Anhang III-2 findet sich ein Überblick über die im Lexikon berücksichtigten Testverfahren.

 

 Zielsetzungen und Anwendungsgebiete 

(1) Beschreibung und Klassifikation: Die Feststellung der Ausprägung einzelner Merkmale oder multidimensionaler Profile setzt die Identifikation relevanter Merkmale und deren fundierte Messung voraus. Entscheidungsrelevante Informationen (z. B. Einstellung eines Mitarbeiters, Therapieindikation) gründen in der Regel auf der begründeten Integration mehrerer Merkmalsausprägungen. Weiterhin ist die Klassifikation durch Zuordnung zu definierten Merkmalsbereichen (z. B. Lernpotential: hoch vs. niedrig; therapiedürftig: ja vs. nein) häufig für die Nutzung der Befunde erforderlich.

(2) Erklärung: Gezielte Identifikation (potentiell) verursachender Merkmalsausprägungen oder -konstellationen (z. B. Verhaltensdiagnostik). (3) Prognose: Identifikation prädiktiv valider Merkmalsausprägungen oder -konstellationen für zukünftige Merkmalsausprägungen oder Ereignisse. Es können interindividuelle (z. B. Identifikation geeigneter Bewerber) und intraindividuelle (z. B. Modifizierbarkeit des Verhaltens von Mitarbeitern) prognostische Zielsetzungen unterschieden werden.

(4) Evaluation: Psychologische Diagnostik von Merkmalen, die bei einer Intervention den Erfolg (Summative Evaluation) oder den Verlauf bzw. Optimierungsmöglichkeiten anzeigen (Formative Evaluation).

Psychologische Diagnostik ist in allen psychologischen Anwendungsdisziplinen von Bedeutung und es haben sich z. T. disziplinspezifische Standards etabliert: Z. B. sind in der Lehr-Lernforschung Kompetenzstruktur- und Kompetenzniveaumodelle, in der Klinischen Psychologie Klassifikationssysteme, in der Arbeits- und Organisationspsychologie eignungsdiagnostische Verfahren und in der Neuro- und Biopsychologie biochemische und bildgebende Verfahren von besonderer Bedeutung. Dies impliziert zum einen, dass eine fundierte psychologische Diagnostik Kenntnisse zu den Standards der Anwendungsgebiete erfordert, und zum anderen, dass die Kenntnisse zur Psychologischen Diagnostik Teil des erforderlichen Kompetenzspektrums von Psychologen in allen angewandten psychologischen Disziplinen sind.

 

 Psychometrie, Gütekriterien und Teststandards 

Diagnostische Erhebungsverfahren müssen testtheoretisch fundiert und hinsichtlich zentraler psychometrischer Gütekriterien geprüft werden. Testtheoretische Modelle (z. B. Klassische Testtheorie, Item-Response-Modelle) und Skalierungsverfahren werden eingesetzt, um begründet von Datenstrukturen (manifeste Merkmale) auf bedeutsame Konstrukte (latente Merkmale) schließen zu können. Dabei wird angenommen, dass dem beobachtbaren Antwortverhalten eine wahre, zu schätzende Merkmalsausprägung zugrunde liegt. Items, die ein Konstrukt erfassen und zu einem diagnostischen Kennwert zusammengefasst werden, müssen statistisch dem Kriterium der Eindimensionalität (Homogenität) genügen und bilden eine Skala. Je expliziter die dimensionale Struktur eines Verfahrens und die Homogenität der Skalen geprüft werden, desto psychometrisch fundierter kann eine Merkmalsdiagnostik erfolgen.

Erst wenn sichergestellt ist, dass Befunde einer diagnostischen Erhebung unabhängig von der konkreten Untersuchungssituation sind (Objektivität), Merkmalsausprägungen genau abbilden und Personen zuverlässig voneinander trennen (Reliabilität) und genau das Merkmal abbilden, dass sie vorgeben zu messen (Validität), kann diese als psychometrisch gesichert gelten. Zudem sollte eine Normierung des Verfahrens vorliegen, damit der Befund in Bezug zu einer relevanten Referenzgruppe eingeordnet und interpretiert werden kann. Im Falle der Fremdbeobachtung durch unabhängige Dritte stellt die Übereinstimmung der Beurteiler ein zentrales Kriterium der Verlässlichkeit der Befunde dar.

Inzwischen liegen mehrere Teststandards oder Leitlinien vor, deren Einhaltung Qualitätsstandards psychologischen Testens sicherstellen sollen (z. B. International Test Commission (ITC, 2000), DIN 33430, Moosbrugger & Höfling, 2010). Diese betreffen insbesondere (1) die Testkonstruktion und -prüfung, für die eine umfassende Orientierung an Gütekriterien verlangt wird, (2) die Testadaptation und -übersetzung, im Rahmen derer die psychometrische Äquivalenz von Testversionen sichergestellt werden muss, (3) die Testanwendung, die nach fachlichen und ethischen Standards erfolgen muss, sowie die Qualitätsbeurteilung psychologischer Tests nach definierten Standards.

Da die fachgerechte Anwendung und Interpretation eine fundierte Kenntnis der testtheoretischen Grundlagen erfordert, dürfen nur Personen mit einer einschlägigen wissenschaftlichen Ausbildung psychologische Tests anwenden.

  

Überblicksquelle 

Petermann, F. & Eid, M. (Hrsg.). (2006). Handbuch der Psychologischen Diagnostik. Göttingen: Hogrefe.

 

Zitierte Literatur 

International Test Commision (2000). Internationale Richtlinien für die Testanwendung. Abgerufen am 10.8.2015 unter www.intestcom.org

Jäger, R. S. (2006). Diagnostischer Prozess. In F. Petermann & M. Eid (Hrsg.), Handbuch der Psychologischen Diagnostik (S. 89–96). Göttingen: Hogrefe.
Moosbrugger, H. & Höfling, V. (2010). Standards für psychologisches Testen. In H. Moosbrugger & A. Kelava (Hrsg.), Testtheorie und Fragebogenkonstruktion (S. 2004–222). Göttingen: Hogrefe.

 

Autor/en

Petermann